Nach neun Jahren im Marketing nochmal ganz neu anfangen und dafür nach New York ziehen. Nicole Westphalen hat sich getraut, auch wenn ihre deutschen Freunde sie für verrückt erklärt haben. Eine Ode an Neuanfänge und gegen ungeschriebene Regeln.
Feiner Staub weht in unsere Gesichter und der Wind trägt den Baustellenlärm zu uns auf die Highline. Die Highline ist eine ehemalige Güterzugtrasse, die vor ein paar Jahren in einen wunderschönen Park umgewandelt wurde. Hier werden wir von Nicole Westphalen mit einem strahlenden Lächeln begrüßt und herzlich umarmt – es fühlt sich einfach jedes Mal wie ein Stück Heimat an, wenn wir uns hier in New York mit anderen Deutschen treffen. Oft wird einem in der Ferne ja auch erst bewusst, das man „deutscher“ ist und denkt, als vermutet.
„In New York City wird eigentlich immer gebaut“, sagt Nicole. „Es geht immer noch größer und immer noch höher. Irgendwie muss man ja von seinem neuen Gebäude reden machen“, sagt sie und zeigt auf ein Hochhaus in der Ferne, dessen Fensterfront auffällig nach Außen gewölbt ist. Die Deutsche ist Anfang 30 und vor einem Jahr von Hamburg in die pulsierende Stadt am Hudson River gezogen. Zuvor hat sie neun Jahre lang als Projektleiterin und Teammanagerin für einen großen deutschen Lebensmittelhändler gearbeitet. „Ich brauchte nach der Zeit einfach etwas anderes und habe überlegt, nochmal ins Ausland zu gehen,“ sagt uns Nicole, während wir versuchen, uns an den Menschenmassen vorbeischlängeln. Dann kam die Liebe dazu und sie ist zu ihrem Partner nach New York gezogen.
Irgendwie ist das in uns Deutschen so drin, dass man sich immer Stress macht.
Diese Entscheidung zu treffen, sei ihr nicht leicht gefallen. Grund waren keine Zweifel, sondern, dass nur sehr wenige aus ihrem Umfeld sie dabei unterstützt haben: „Die meisten hielten mich für verrückt, einen so sicheren Job aufzugeben.“ Als sie ihnen dann erzählte, dass sie aufgrund der Visabestimmungen erstmal gar nicht arbeiten darf: Schweigen.
Aber die fehlende Jobaussicht sei noch nicht einmal der größte Schock gewesen: „Als ich dann noch hinzugefügt habe, dass ich mich als Immobilienmaklerin ausprobieren möchte, hat keiner mehr etwas dazu gesagt. Wahrscheinlich haben sie sich ihren Teil gedacht.“ Mittlerweile kann sie darüber lachen, trotzdem findet Nicole es schade, dass viele Deutsche auf Regeln eingeschossen sind, die es zwar offiziell nicht gäbe, aber irgendwie doch: „Irgendwie ist das in uns Deutschen so drin, dass man sich immer Stress macht.“ Besonders, wenn es um den beruflichen Werdegang geht: „Regel Nummer eins: Du musst studieren. Wieso? Man kann doch auch Lust auf ein Berufsfeld haben, in dem man keinen Studienabschluss benötigt.“
Macht das, worauf ihr Lust habt: Wenn es Tellerwaschen ist, dann spült Teller ab.
Ein Trugschluss, wie Nicole findet. Sie möchte jeden Tag Freude an dem haben, was sie beruflich macht. Egal, ob mit oder ohne Studienabschluss. Das sei auch ihr Rat an alle anderen: „Macht das, worauf ihr Lust habt: Wenn es Tellerwaschen ist, dann spült Teller ab.“ Deswegen verkauft Nicole jetzt tatsächlich seit fünf Monaten Immobilien – nach neun Jahren im Marketing und Recruitment wollte sie sich nochmal neu erfinden. Immobilien fand Nicole immer schon spannend, genauso wie die TV-Sendung „Million Dollar Listing” (ähnlich wie „mieten, kaufen, wohnen“), von der sie inspiriert wurde.
Als sie bei der eigenen Wohnungssuche (die vorherige Wohnung ihres Partners bezeichnet sie übrigens als „Schuhkarton“) – auf viele kulturelle Unterschiede gestoßen ist, hat sie außerdem eine Marktlücke gesehen: „Anders als in Deutschland wird man hier ganz schön alleingelassen.“ Quadratmeter werden per se nicht angegeben und wenn man einen Termin für eine Wohnungsbesichtigung machen möchte, wird direkt ein paar Stunden später „die perfekte Wohnung“ gezeigt. Allerdings ohne vorher von dem Makler oder der Maklerin nach konkreten Vorstellungen gefragt worden zu sein.
Selbstständig unter dem Dach einer großen Immobilienfirma
„Dann kommt es schonmal vor, dass du in einem Apartment in Chelsea stehst, obwohl du im Financial District wohnen wolltest. Oder in einem Studio, obwohl du eine 3-Zimmer-Wohnung suchst.“ Auch die Ausstattung sei ganz anders: In Deutschland ist ein Waschmaschinenanschluss eigentlich Standard, in New York nicht. Alles Dinge, die man bei der Suche beachten muss, einem aber keiner erzählt. Für diesen schlechten Service wollen viele aber nicht bezahlen. Hier sieht Nicole ihre Chance: „Ich möchte nicht auf diesen Schnell-Schnell-Zug aufspringen, sondern mein Ziel ist es, vor allem Deutsche oder MitteleuropäerInnen bei der Wohnungssuche zu begleiten. Und ihnen all das erklären, was hier nicht selbstverständlich ist.“
Direkt nachdem Nicole ihre Arbeitsgenehmigung bekommen hat, hat sie sich für eine Ausbildung an einer Immobilien-Schule angemeldet. 74 Stunden und zwei Examen später, hat sie im Februar diesen Jahres direkt einen Job bei einer großen Immobilienvermittlung in New York gefunden. Dort arbeitet sie zwar unter dem Dach des Unternehmens, nutzt ihre Büroräume, das Marketing und ist auf der Webseite gelistet, ist aber trotzdem selbstständig: „Deshalb muss ich mich auch selbst vermarkten und mir nach und nach einen Kundenkreis aufbauen. Das kann sehr anstrengend sein, ist aber auch sehr reizvoll.“
Ich glaube, dass besonders im Immobilienmarkt immer echte Menschen gesucht werden.
Mittlerweile sind wir an einem ruhigeren Platz im Park angekommen und setzen uns auf eine Bank. Wenn Nicole von ihrem Job als Immobilienmaklerin erzählt, kommt sie richtig ins Schwärmen. Wir treffen sie übrigens in ihrer Mittagspause. Das Zeitfenster, das ihr am besten passt. Wobei man nach ihrer Aussage als ImmobilienmaklerIn eigentlich immer arbeitet. Vor allem dann, wenn die meisten frei haben: Abends und am Wochenende. „Und wenn ihr jetzt eine ehrliche Antwort darauf haben wollt, was ich in den ersten Monaten verdient habe: Gar nichts. Das gehört einfach zur Selbstständigkeit und Neuanfängen dazu.“
Vor großen Veränderungen in der Arbeitswelt, die ihr womöglich den Job kosten könnten, hat sie aber keine Angst: „Ich glaube, dass besonders im Immobilienmarkt immer echte Menschen gesucht werden.“ Ein Beispiel dafür sei ihr aktueller Kunde aus Hong Kong, ein junger Student: „Ich habe angeboten, Fotos und Videos von der Wohnung an ihn zu schicken. Das wollte er aber nicht, weil er die Wohnung live sehen will, um die Atmosphäre zu spüren.“ Bei der Vermietung von Wohnungen kann sie sich deshalb auch keine Führungen mit VR-Brillen vorstellen (VR = Virtual Reality). Dafür sei das Misstrauen einfach zu groß: „Das kennt man ja von überall her und besonders in New York trifft es zu: Wohnungen sehen auf Bildern völlig anders aus, als in echt.“
Außerdem sei VR zu teuer. Für den Verkauf von Immobilien sei es eher denkbar. Wenn leere Häuser oder Wohnungen verkauft werden, werde ohnehin oft ein sogenanntes Staging gemacht. Die Immobilie wird komplett eingerichtet, damit sich KundInnen ihr zukünftiges Zuhause besser vorstellen können: „Das gibt es heutzutage auch schon auf Baustellen und wenn Möbel nicht extra reingestellt und Bilder aufgehängt werden müssen, erspart das natürlich Zeit und Geld.“
In den USA ist es gesellschaftlich eher erlaubt, etwas auszuprobieren.
Nicoles Resümee nach fünf Monaten MaklerInnen-Dasein: „Ich wusste, dass es ein umstrittenes Business ist, aber es macht mir viel Spaß.“ Natürlich wisse sie nicht, ob sie damit erfolgreich wird, möchte es aber auf jeden Fall weiter versuchen. In New York gibt es schließlich über 30.000 MaklerInnen, die auch Geld verdienen wollen. Sie hat aber auch keine Angst davor, sich noch einmal umzuorientieren, falls nötig: „Wenn ich in zwei Jahren merken sollte, dass es nicht mehr passt, wechsle ich einfach den Job.“ Fest steht für sie aber, dass sie nur noch Jobs annimmt, bei denen sie mit 100 Prozent dabei ist: „Sonst kann es auch nicht gut werden.“
Eine Einstellung, der sie auch in New York oft begegnet ist: „Es ist gesellschaftlich eher erlaubt, etwas auszuprobieren.“ Anders als in Deutschland, wo es aus ihrer Sicht fast vorgeschriebene Lebensläufe gibt. „Wer ein Einser-Abitur hat, muss Ärztin werden, sonst ist das ja verschenkt – so ein Quatsch!“ An dieser Stelle fragen wir eigentlich nur der Vollständigkeit halber nochmal nach, wie AmerikanerInnen darauf reagieren, wenn sie von ihrer Umorientierung erzählt: Sie sind natürlich begeistert.
Titelbild: Johanna Röhr
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